Ein Arbeitnehmer muss die Möglichkeit haben, nicht ausgeübte Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu übertragen und anzusammeln

Das Unionsrecht verbietet es, einen Arbeitnehmer dazu zu verpflichten, Urlaub zu nehmen, ehe er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat

Ein Arbeitnehmer muss nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub unbegrenzt übertragen und ansammeln können, wenn der Arbeitgeber ihn nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Urteil vom 29.11.2017 entschieden. Anders als in den Fällen langfristig erkrankter Arbeitnehmer sei hier eine Begrenzung des Übertragungszeitraums zum Schutz des Arbeitsgebers nicht erforderlich (C-214/16).

 

Der Ausgangskläger arbeitete von 1999 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2012 für The Sash Window Workshop (SWWL) auf der Basis eines "Selbstständigen-Vertrags ausschließlich gegen Provision". Nach diesem Vertrag erhielt er ausschließlich Provisionen. Wenn er Jahresurlaub nahm, wurde dieser nicht bezahlt. Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses verlangte er von seinem Arbeitgeber die Zahlung einer Vergütung sowohl für genommenen, aber nicht bezahlten, als auch für nicht genommenen Jahresurlaub im gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung. Das Unternehmen wies die Forderung zurück. Daraufhin erhob der Ausgangskläger Klage beim zuständigen britischen Arbeitsgericht (Employment Tribunal). Dieses stellte fest, dass der Ausgangskläger "Arbeitnehmer" im Sinne der britischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG sei und einen Anspruch auf Vergütung für bezahlten Jahresurlaub habe. 

 

Das in der Rechtsmittelinstanz mit der Sache befasste Berufungsgericht (Court of Appeal, England and Wales) rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und bat um Klärung mehrerer Fragen zur Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie. Insbesondere wollte es wissen, ob es bei einem Streit über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub hat, mit dem EU-Recht vereinbar ist, wenn der Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er Anspruch auf Bezahlung für diesen Urlaub hat. Außerdem wollte das Gericht wissen, ob ein Arbeitnehmer Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses übertragen und ansammeln kann, wenn die Ansprüche wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden sind. 

 

Laut EuGH verbietet es das EU-Recht, dass der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat. Dies folge aus Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 47 der EU-Grundrechtecharta. Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub sei es, dass der Arbeitnehmer sich erholen kann und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit verfügt. Ein Arbeitnehmer könne seinen Urlaub aber nicht voll genießen, wenn er nicht sicher sein kann, den Jahresurlaub auch vergütet zu bekommen. Dies könne den Arbeitnehmer außerdem davon abhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen. Jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die eine derartige abschreckende Wirkung haben könne, verstoße aber gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel. Ferner moniert der EuGH einen Verstoß gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47 der EU-Grundrechtecharta. Dieses Recht sei nicht gewährleistet, wenn der Arbeitnehmer gezwungen ist, zunächst unbezahlten Jahresurlaub zu nehmen und dann dessen Bezahlung einzuklagen. 

 

Außerdem müsse ein Arbeitnehmer Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die er in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt habe, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses übertragen und ansammeln können, so der EuGH weiter. Seine Rechtsprechung zur begrenzten Übertragung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub bei Arbeitnehmern, die diesen Urlaub krankheitsbedingt nicht nehmen konnten, sei nicht übertragbar. Ein Schutz der Interessen des Arbeitgebers sei vorliegend nicht zwingend notwendig. Insbesondere sei der Arbeitgeber nicht mit Abwesenheitszeiten des Ausgangsklägers konfrontiert gewesen. Der Arbeitgeber habe vielmehr davon profitieren können, dass der Ausgangskläger seine berufliche Tätigkeit bei ihm nicht unterbrochen habe. Daher obliege es dem Arbeitgeber, sich umfassend über seine Verpflichtungen im Bereich des bezahlten Jahresurlaubs zu informieren. 

 

Laut EuGH muss daher anders als im Fall des Arbeitnehmers, der aus Krankheitsgründen seinen bezahlten Jahresurlaub nicht nehmen konnte, der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen tragen. Ließe man, wenn es keine nationale Vorschrift gibt, die eine Begrenzung der Übertragung von Urlaubsansprüchen im Einklang mit den Anforderungen des EU-Rechts vorsieht, ein Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu, würde im Ergebnis ein Verhalten gebilligt, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führe und dem Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderlaufe.

Quelle: EuGH-Pressemitteilung 127/17 vom 29.11.2017

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